Die Arbeiter und die Anderen: Arbeiterbewegung, Nation und Migration vom 19. bis ins 21. Jahrhundert

Artikel gesucht für ein Schwerpunktheft im Januar 2021 – Exposés bis 17. Mai 2020 willkommen!

„Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ – mit diesem Schlachtruf endete 1848 das Kommunistische Manifest. Die prominenten Autoren gingen selbstverständlich davon aus, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter „kein Vaterland“ hätten und übernahmen damit eine These des Frühsozialismus: Die Solidarität der Klasse stehe über der Nation. So sah es auch Wilhelm Weitling in seinem Werk „Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte“ von 1839, in der er die Abschaffung der Nationalstaaten und die zwangsweise Einführung einer Universalsprache forderte, um nationale Gegensätze für zukünftige Generationen auszulöschen.

Dieser utopische Überschuss ließ in den folgenden Jahrzehnten nach. Bereits während der 1848er Revolution wurde die europäische Arbeiterklasse national eingemeindet. Der Erfolg bürgerlicher Revolutionen und Wahlrechtsausweitungen machte im 19. Jahrhundert nationale Parlamente zum Adressaten arbeiterbewegter Forderungen. Wie selbstverständlich wurde in sozialistischen Parteien der Zweiten Internationale ab 1889 davon ausgegangen, dass ein Internationalismus aus der Verbrüderung nationaler Arbeiterbewegungen herrühre. Ideen von „Kultureller Autonomie“, wie Otto Bauer sie für Österreich-Ungarn entwickelte, oder die Debatten der Bolschewiki und des jiddischen „Bund“ um die „Nationale Frage“ im Russischen Reich blieben Randphänomene.

In der Rückschau betrachtet trafen diese Debatten um ambivalente nationale Identitäten und den Widerspruch zwischen nationaler oder ethnisch-kultureller Identität und Klassenidentität jedoch eine Kernfrage kapitalistisch verfasster Gesellschaften. Denn weder im Globalisierungsschub des 19. Jahrhunderts noch im Freihandelsoptimismus des 21. Jahrhunderts können die Ströme von Kapital, Waren und Arbeit ohne das Gewaltmonopol einer Staatengemeinschaft organisiert werden. Gleichzeitig untergrub der Weltmarkt stetig die Grenzen der Nation, riss immer wieder „alle chinesischen Mauern ein“, wie Marx und Engels 1848 festhielten.

Dieser Widerspruch von globaler Produktionsweise und national oder lokal gebundener Arbeitsbevölkerung verursachte immer wieder Migrationsströme – sie und die Reaktionen darauf sollen Thema eines kommenden Schwerpunktheftes von „Arbeit – Bewegung – Geschichte“ sein.

Wir fragen nach Arbeiterinnen und Arbeitern in Bewegung, wobei die Facetten vielfältig sind: Es geht um die Reaktion von „alteingesessenen“ Arbeitenden auf neu ankommende Arbeitskräfte, um die Erfahrungen und Kämpfe der migrantischen Arbeiterinnen und Arbeiter selbst, sowie um gesellschaftliche Diskurse, die sie integrierten oder als Fremde ethnisierten. Im Fokus steht besonders die Frage nach kollektiven Reaktionen und Praxen der Arbeitenden und ihrer Organisationen – von wilden Streiks der Migrantinnen und Migranten über gewerkschaftliche Integrationsversuche bis hin zu transnationalen Organisierungen von Arbeiterparteien oder Gewerkschaften.

Aus eigenen Erfolgen ergaben sich dabei neue Widersprüche. Nach dem langen Kampf um das Wahlrecht für arbeitende Frauen und Männer gelang es Arbeiterparteien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erstmals, nationale Politik über längere Zeiträume zu gestalten und Wohlfahrtsstaaten aufzubauen. Doch existierte von der bismarckschen Rentenversicherung über das skandinavische Modell bis hin zu aktuellen Debatten um ein „Grundeinkommen“ kein Konzept, um Leistungen nationaler Wohlfahrtsstaat zu internationalisieren. Ebenso wenig konnte der Sozialstaat durch „Entwicklungspolitik“ exportiert werden. Stattdessen verschob sich nach nur einer Generation das Gleichgewicht. Mit einer Doppelbewegung aus Deindustrialisierung in den historischen Kernländern des Kapitalismus und rapider Industrialisierung in vielen Schwellenländern sank der Einfluss von Gewerkschaften und Arbeiterparteien auf die jeweilige nationale Politik und das internationale Welthandelsregime seit den 1970er Jahren. Strukturelle Arbeitslosigkeit brachte das von Marx und Engels als „industrielle Reservearmee“ bezeichnete Heer der Arbeitslosen wieder auf die Bühne. Aus der Existenz einer „Reservearmee“, die von Kapitalisten als Ersatz und als Druckmittel gegenüber dem organisierten arbeitenden Proletariat ins Spiel gebracht werde, leiteten Gewerkschaften immer wieder auch protektionistische Positionen ab. Zuwanderung sollte ebenso begrenzt werden wie Importe „fremder“ Waren. Die Forderungen blieben jedoch umstritten, konkurrierten mit dem Ideal von „Gleichem Lohn für Gleiche Arbeit“.

Erst mit Anbruch des neoliberalen Zeitalters sehen wir als Gegenreaktion auf die zunehmende Ohnmacht der Arbeiterbewegung einen neuen Nationalisierungsschub der arbeitenden Klassen: die Erosion sozialdemokratischer und kommunistischer Arbeiterparteien und den langsamen Aufstieg konservativer und später rechtspopulistischer Kräfte – nicht nur in Europa, sondern auch mit Trump in den USA oder Modi in Indien. Gleichzeitig zeigen sich Gegenkräfte, wie etwa Diskussionen über einen Demokratischen Sozialismus in den USA oder der bisher weltweit größte Generalstreik mit über 200 Millionen Beteiligten 2019 in Indien.

Die Frage nach dem Verhältnis von Arbeiterklasse und Nation, nach Arbeit und Migration ist deshalb zum Zeitpunkt des Abschwungs von arbeiterbewegter Politik nicht abgeflaut, sondern akuter denn je. Daher wollen wir diesem Verhältnis historisch auf den Grund gehen und bitten um Beitragsvorschläge. Das Heft soll aus einer globalen Perspektive im wesentlichen Fallbeispiele vom 19. bis ins 21. Jahrhundert umfassen, wobei Rückgriffe in frühere Zeiträume (Atlantische Revolutionen, Entstehung von Arbeiterklassen im 18. Jahrhundert) ebenfalls willkommen sind. Vergleichende Arbeiten und transnationale Zugänge sind besonders erwünscht, ebenso methodische oder historiographische Beiträge etwa zu Konzepten der Global Labour History, der neueren Migrationsforschung etc.

Mögliche Fragen und Themen noch einmal in Kürze:

Transnationale Arbeiteridentitäten: Kosmopolitismus und Internationalismus in frühsozialistischen Bewegungen vor 1848; Arbeit und Nation in der 1848er Revolution und anderen bürgerlichen Revolutionen; sozialistische Debatten um kulturelle Autonomie und Föderalismus in der Zweiten Internationale; die Bildung von Arbeiterbewegungen in Imperien und multiethnischen Räumen; Solidarität, Kooperation, Projektionen und Abgrenzung zwischen der Arbeiterbewegung in Ost und West mit Arbeiterorganisationen im Globalen Süden während des Kalten Krieges.

Prozesse der Nationalisierung von Arbeiterklasse: Arbeiterklasse und Arbeiterbewegungen in den europäischen Nationalstaatsbildungen; Arbeiterbewegung in antikolonialer Nationsbildung seit Ende des Ersten Weltkriegs; der fordistische Sozialstaat in den Industrienationen als Moment nationaler Integration nach 1945; Staatssozialismus und Arbeiteridentitäten (sowohl in multinationalen Staaten wie der UdSSR oder der SFR Jugoslawien, aber auch im Kontext von Dekolonisierung).

Arbeiterklasse und Migration: sozialistische Diskurse über Arbeitsmigration seit dem 19. Jahrhundert; migrantische Gemeinschaften als Teil der Arbeiterklasse seit ihrer Entstehung – von „Auslandsdeutschen“ bis hin zu „Ruhrpolen“, gewerkschaftliche Strategien zur Organisation eingewanderter Arbeiterinnen und Arbeiter; Selbstorganisation und spontane Protestformen von Arbeitsmigrantinnen und Migranten; Antworten von Gewerkschaften und Arbeiterparteien auf nationalistische Bewegungen bzw. Mobilisierung gegen Arbeitsmigration; das Verhältnis von Gewerkschaften zu Forderungen nach Begrenzung von Einwanderung.

Trans- und internationale Strategien von Arbeiterbewegungen: Die drei Internationalen als Modelle der Kooperation von Arbeiterparteien; gewerkschaftliche Internationalisierungsversuche und ihre Grenzen; antikoloniale Solidaritätskampagnen; transnationale Streikbewegungen.

Form und Fristen

Wir bitten bis zum 17. Mai 2020 um die Einreichung aussagekräftiger Exposés im Umfang von bis zu 2.500 Zeichen, aus denen Thema, Methode und Quellenbasis des geplanten Artikels hervorgehen. Auf Grundlage der Exposés werden wir gezielt Beiträge anfordern. Die Abgabefrist für die ausgearbeiteten Artikel ist der 16. August 2020. Rezensionen und Dokumentationen zu thematisch passenden Veröffentlichungen oder Ausstellungen sind ebenso willkommen. Alle Beiträge durchlaufen vor der Veröffentlichung ein internes Begutachtungsverfahren (review), erst nach Einreichung und Begutachtung der Endfassung erfolgt die Publikationszusage. Beiträge für Arbeit – Bewegung – Geschichte werden nicht honoriert. Manuskripte bitte per Email, vorzugsweise als Word-Datei einsenden. Die ausgearbeiteten Beiträge sollen 40.000 Zeichen inkl. Leerzeichen und Fußnoten nicht überschreiten. Bitte beachten Sie unsere Hinweise für Autorinnen und Autoren.

Kontakt und Abgabe:
cfp[ätt]arbeit-bewegung-geschichte.de

Der Zeitplan in Kürze:
Einreichung von Exposés: 17. Mai 2020
Einreichung fertiger Beiträge: 16. August 2020

Erscheinen des Heftes: Voraussichtlich Ende Januar 2021